Keine Haftung des Busfahrers für einen Sturz während des Anfahrens – Obliegenheit zur Eigensicherung des Fahrgastes

Keine Haftung des Busfahrers für einen Sturz während des Anfahrens. Am gleichen Tag hat das Gericht in einem Parallelverfahren 11 U 108/17 ebenfalls zugunsten des Busfahrers entschieden.

OLG Hamm, Beschluss vom 28.02.2018, 11 U 57/17
Vorinstanz: Landgericht Bochum, 8 O 23/17

Aus den Gründen:

Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung umfasst die Pflicht eines Fahrgastes zur Eigensicherung die Obliegenheit, sich unmittelbar nach dem Zusteigen in eine Straßenbahn oder einen Linienbus sicheren Stand oder einen Sitzplatz sowie sicheren Halt zu verschaffen (vgl. u.a.: Senat, NZV 2017, 377 m.w.N.). Auch aus § 4 Abs. 3 S. 5 BefBedV und § 14 Abs. 3 Nr. 4 BOKraft ergibt sich, dass ein Fahrgast eines Busses verpflichtet ist, sich „stets“ einen festen Halt zu verschaffen. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 BefBedV haben sich Fahrgäste bei Benutzung der Betriebsanlagen und Fahrzeuge so zu verhalten, wie es die Sicherheit und Ordnung des Betriebes, ihre eigene Sicherheit und die Rücksicht auf andere Personen gebieten. Kommt ein Fahrgast bei normaler Anfahrt einer Straßenbahn oder eines Linienbusses zu Fall, spricht ein Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Sturz auf mangelnde Vorsicht des Fahrgastes zurückzuführen ist. Hat es ein Fahrgast versäumt, gerade in dem Zeitraum des besonders gefahrenträchtigen Anfahrens sicheren Halt an einer der Haltestangen zu suchen, trifft ihn nicht nur ein leichtes, sondern ein erhebliches Mitverschulden, demgegenüber die Betriebsgefahr der Straßenbahn oder des Linienbusses bei der Abwägung der Schadenursachen völlig zurücktritt (vgl. Senat, a.a.O.).

Gegen ihre Obliegenheit zur Eigensicherung hat die Erblasserin verstoßen. Sie hat keinen der unmittelbar im Einstiegsbereich vorhandenen freien Sitzplätze eingenommen und sich im besonders gefahrträchtigen Zeitpunkt des Anfahrens auch zumindest nicht hinreichend festgehalten. Entgegen der Ansicht der Kläger kann von einem körperbehinderten oder gebrechlichen Fahrgast in der Regel auch erwartet werden, dass er vorn beim Fahrer einsteigt und ihn bittet, mit dem Anfahren abzuwarten, bis er Platz genommen oder sich einen festen Halt verschafft hat (vgl. Filthaut, NZV 2011, 217, 220). Eine solche Bitte hat die Erblasserin gegenüber dem Beklagten zu 2) nicht geäußert.

Ein Verschulden des Beklagten zu 2) lässt sich hingegen nicht feststellen. Nach der Rechtsprechung des BGH, der der Senat folgt, ist ein Fahrgast im modernen Großraumwagen einer Straßenbahn oder eines Linienbusses in aller Regel sich selbst überlassen und kann nicht damit rechnen, dass der Wagenführer, der mit Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer die äußeren Fahrtsignale beachten muss, sich um ihn kümmert. Vielmehr kann eine solche Verpflichtung nur dann ausnahmsweise bejaht werden, wenn für den Fahrzeugführer eine schwerwiegende Behinderung des Fahrgastes erkennbar ist, welche ihm die Überlegung aufdrängt, dass der Fahrgast ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet ist  (BGH, NJW 1993, 654, 655).

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Nach den konkreten Umständen des vorliegenden Falles musste sich dem Beklagten zu 2) nicht die Überlegung aufdrängen, die Erblasserin sei ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet. Denn die Erblasserin hatte den Bus ohne erkennbare Probleme bestiegen, und zwar ohne Unterstützung Dritter und ohne Gehhilfen wie z.B. einen Rollator oder einen Gehstock. Danach hatte die Erblasserin nicht einen der nahgelegenen freien Sitzplätze eingenommen, wie es sich bei einer schwerwiegenden Gehbehinderung aufgedrängt hätte, sondern den Bus – wiederum ohne erkennbare Schwierigkeiten – zunächst weiter durchschritten.

Aus der Vorlage des Schwerbehindertenausweises musste der Beklagte zu 2) ebenfalls nicht schließen, die Erblasserin sei ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet.  … Hier ist aber maßgeblich, ob allein die Vorlage eines solchen Ausweises dem Fahrer eines Linienbusses die Überlegung aufdrängt, dass der Fahrgast ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet ist. Das ist zu verneinen, weil ein zur unentgeltlichen Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs berechtigender Schwerbehindertenausweis auch Personen erteilt wird, von denen nicht ohne Weiteres anzunehmen ist, dass sie in öffentlichen Verkehrsmitteln besonderer Rücksichtnahme bedürfen.  … Entgegen der Ansicht der Kläger lässt selbst die Eintragung des Merkzeichens G im Schwerbehindertenausweis nicht sicher darauf schließen, dass der Inhaber des Ausweises in öffentlichen Verkehrsmitteln besonderer Rücksichtnahme bedarf.  …  Es ist aber nicht erkennbar, dass Menschen mit einer Störung der Orientierungsfähigkeit in öffentlichen Verkehrsmitteln besonderer Hilfe oder Rücksichtnahme bedürfen, um einen Sitz einnehmen und sich festen Halt verschaffen zu können.

Nach alledem kann entgegen der Auffassung der Kläger allein aufgrund der Vorlage eines Schwerbehindertenausweises, der zur unentgeltlichen Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs berechtigt und das Merkzeichen G trägt, von einem Linienbusfahrer keine besondere Rücksichtnahme erwartet werden. Auch kann vom Fahrer eines Linienbusses regelmäßig nicht erwartet werden, dass er Menschen mit Behinderungen bei Vorlage eines Ausweises auch dann danach fragt, ob er mit dem Anfahren zuwarten soll, wenn äußerlich keinerlei Anzeichen einer Beeinträchtigung oder Hilfsbedürftigkeit erkennbar sind. Vielmehr kann in einem solchen Fall von der behinderten Person regelmäßig erwartet werden, dass sie ihrerseits auf ihre Situation aufmerksam macht und den Fahrer bittet, das Anfahren bis zur Einnahme eines Sitzplatzes zurückzustellen. So liegt es auch hier, denn dafür, dass die Erblasserin eine entsprechende Bitte nicht hätte vorbringen können, ist weder etwas vorgetragen noch sonst ersichtlich.“