Recht zur Einsicht in die Lebensakte des Messgerätes

Der Verfassungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg entschied (Urt. v. 16.01.2023, Az. 1 VB 38/18), dass der Betroffene eines Bußgeldverfahrens wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes das Recht zur Einsicht in die Lebensakte und in die Wartungs- und Reparaturunterlagen des Messgeräts erhalten muss.

Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordere juristische Waffengleichheit zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Beschuldigten andererseits. Dieser müsse möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen erhalten, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte. Dazu gehören nach Ansicht des Gerichts auch solche Inhalte, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. 

Die Verweigerung des Zugangs zu den zur Überprüfung erforderlichen Unterlagen sei verfassungswidrig. Allerdings muss nach den entsprechenden Informationen durch den Verteidiger ausdrücklich gefragt werden; das Gericht ist nicht zur eigenen Aufklärung verpflichtet.

Hier folgt der VGH Baden-Württemberg dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG), welches ähnlich bereits entschieden hatte (Beschluss vom 12.11.2020, Az. 2 BvR 1616/18).

Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht auch in mehreren Entscheidungen bisher entschieden, dass es keine Pflicht gibt, nur Geräte einzusetzen, die eine dauerhafte Speicherung der Rohdaten vorsehen. Die Hersteller seien nicht dazu verpflichtet, die Daten dauerhaft zu speichern (BVerfG, Beschlüsse vom 20.6.2023, Az.: 2 BvR 1082/21 (PoliScan M1 HP), 2 BvR 1090/21 (TraffiStar S350) und 2 BvR 1167/20 (Leivtec XV3)).

Kommt bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung ein standardisiertes Messverfahren zur Anwendung, sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geringere Anforderungen an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte zu stellen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 42, unter Verweis auf BGHSt 39, 291; 43, 277). Denn die Zulassung durch die PTB bietet bei Verwendung des Messgerätes im Rahmen der Zulassungsvorgaben nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich eine ausreichende Gewähr dafür, dass die Messung bei Einhaltung der vorgeschriebenen Bedingungen für den Einsatz auch im Einzelfall ein fehlerfreies Ergebnis liefert (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 42 m.w.N.).

Regelmäßig umfasst der Akteninhalt der Bußgeldakte deshalb lediglich diejenigen Informationen, die zur Feststellung des Geschwindigkeitsverstoßes nach den Grundsätzen zum standardisierten Messverfahren entscheidungserheblich sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 44 m.w.N.).

Dabei gilt das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten nicht unbegrenzt, weil andernfalls die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs bestünde (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 56). Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 57). 

Auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung wird nahezu einhellig abgelehnt, dass aus dem Recht auf gleichmäßigen Zugang zu vorhandenen Beweismitteln auch ein Recht auf Vorhaltung beziehungsweise Schaffung potentieller Beweismittel folge und wird das standardisierte Messverfahren nach den allgemeinen Grundsätzen auch bei nicht vorhandenen Rohmessdaten zur Anwendung gebracht (vgl. etwa KG, Beschluss vom 2. Oktober 2019 – 3 Ws [B] 296/19, 3 Ws [B] 296/19 – 162 Ss 122/19 -, juris, Rn. 3 ff. m.w.N. und Beschluss vom 5. April 2020 – 3 Ws [B] 64/20, 3 Ws [B] 64/20 – 122 Ss 21/20 -, juris, Rn. 14 ff. m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 9. Dezember 2019 – 202 ObOWi 1955/19 -, juris, Rn. 5 ff. m.w.N.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 8. Januar 2020 – 3 Rb 33 Ss 763/19 -, juris, Rn. 18 ff. m.w.N.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. März 2020 – IV-2 RBs 30/20 -, juris, Rn. 4 ff. und Rn. 17 m.w.N.; OLG Koblenz, Beschluss vom 17. November 2020 – 1 OWi 6 SsRs 271/20 -, juris, Rn. 22 ff. m.w.N.; hierzu nunmehr auch VerfGH RP, Beschluss vom 22. Juli 2022 – VGH B 30/21 -, Rn. 33 m.w.N.; abweichend hiervon kann nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes das Recht auf effektive Verteidigung es gebieten, „Rohmessdaten“ als Grundlage eines standardisiert ermittelten Messergebnisses zu speichern unter der Voraussetzung, dass − und hiervon geht der Verfassungsgerichtshof im zu entscheidenden Fall aus − zuverlässige Verteidigungsmittel fehlen und eine Speicherung technisch möglich sowie zur Verifizierung des Messvorgangs geeignet ist, vgl. VerfGH Saarland, Urteil vom 5. Juli 2019 – Lv 7/17 -, juris, Rn. 96 ff.).